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„Der Kontext muss immer wieder das Dogma in Frage stellen”

Interview mit Esther und Dimitrios Tsatsas von Gerrit Terstiege
Das Frankfurter Ehepaar Tsatsas entwirft und produziert im eigenen Namen zeitgemäße, minimalistische Taschen, Koffer und Accessoires aus Leder. Seit 2018 stellt TSATSAS auch eine Handtasche her, die Dieter Rams ursprünglich nur für seine Frau Ingeborg entworfen hatte. Das schlichte Produkt machte das deutsch-griechische Modelabel international noch bekannter.
Porträt von Dimitrios und Esther Tsatsas
Schlichte, schwarze Kleidung als Pro­gramm: Dimitrios und Esther Tsatsas, porträtiert von ihrem Freund und Kollegen Gerhardt Kellermann.
© TSATSAS
GT: Vor 12 Jahren habt ihr TSATSAS gegründet. Es galt damals, sozusagen aus dem Nichts, eine Marke mit eigener Identität zu schaffen. Was waren in den ersten Jahren die besonderen Herausforderungen?
ET: Ich glaube, die größte Herausforderung für uns war, dass wir vom Background her nicht aus der Mode kamen, sondern ich aus der Architektur und Dimitrios aus dem Produktdesign. Sich dann plötzlich in der Modewelt zurechtzufinden, war eine der größten Herausforderungen – und das ist es in gewisser Weise noch heute. Die Mode ist ein System mit eigenen Gesetzen. Schnelllebiger als das Produktdesign. Sehr trend-orientiert. Und das ist gar nicht die Art, wie wir denken, wie wir arbeiten wollen. Wenn man aus der Architektur kommt, denkt man langfristig.
Katalogtitel einer Publikation des Deutschen Ledermuseums über TSATSAS
Beispielseite einer Publikation des Deutschen Ledermuseums über TSATSAS
Katalogtitel und Bei­spiel­seite einer Publi­kation des Deutschen Ledermuseums über TSATSAS, 2022 herausgegeben von Inez Florschütz anläss­lich einer Ausstellung über die Taschen und Accessoires des Duos. Fotos: Dimitrios Tsatsas
© TSATSAS
GT: Die Entwürfe, die unter eurem Label entstehen, zeichnet große Klarheit aus – auch eine eher seltene Eigenschaft im Mode-Business. Waren Schlichtheit und Einfachheit von Anfang an Ziele, die ihr formal anstreben wolltet?
DT: Das grundsätzlich schon – wobei der Gedanke, aus dieser Haltung eine Marke zu kreieren, entstand schrittweise, im Prozess. Die Initialzündung stellte die Tasche Lucid dar, die aus einem persönlichen Bedürfnis heraus entstand. Etwas Vergleichbares konnte ich damals nirgendwo finden. Ich wollte eine praktische Tasche haben, die gleichzeitig sehr schlicht ist, elegant und modern. Da mein Vater eine eigene Werkstatt zur Leder­verarbeitung hat, habe ich natürlich einen gewissen Anspruch an Fertigung und Materialität. So entstand die Idee, die Tasche selbst zu entwerfen. Ohne diesen Heritage Touch, also dieses Klassisch-Männliche, das damals en vogue war. Und dabei haben wir gemerkt, dass man ein Produkt ganz anders denken muss – nicht nur gestalterisch. Welche Auswirkungen hat es, wenn man Dinge weglässt? Wenn man es ganz reduziert haben will? Auch die Reduktion muss ja handwerklich Detail für Detail gelöst werden. Da muss man manchmal neue Wege finden, um genau das tun zu können. Und dieser Prozess hat letzten Endes dazu geführt, dass sich so die Identität der Marke TSATSAS herausgebildet hat.
GT: Das ist ein interessanter Aspekt, auf den du hinweist, wenn du über das Weglassen im Entwurfs­prozess sprichst. Denn das zeigt ja, dass das bekannte Credo von Rams – „weniger, aber besser“ – auch ein Ringen um Einfachheit bedeutet und nichts ist, was einem in den Schoß fällt. Und die Elemente, auf die im Gestaltungsprozess bewusst verzichtet wurde, sieht man beim finalen Produkt schlichtweg nicht … Das bringt mich wiederum auf euren Claim: „context over dogma“. Wofür steht er genau?
DT: Der Kontext muss immer wieder das Dogma in Frage stellen.
ET: Obwohl wir oft am Ende unserer Überlegungen wieder beim Dogma landen! (lacht)
Die die Produkte begleitende, markante Fotosprache des Markenbilds von TSATSAS
Die die Produkte beglei­tende, markante Foto­sprache trägt viel zum Markenbild von TSATSAS bei.
Foto: Dimitrios Tsatsas
© TSATSAS
DT: Genau. Wir wollen uns ja nicht von Saison zu Saison verändern. Der Begriff Dogma steht für Richtlinien oder ein Frameset, das für uns sehr relevant ist. Trotzdem muss man auch eine gewisse Flexibilität mitbringen. Ein Beispiel, das mir in dem Zusammenhang einfällt, ist ein Kofferprojekt: Wir haben, als Dogma, in unseren Hand­taschen immer dunkelblaues Lamm-Nappaleder verarbeitet, das die Taschen füttert. Aber zum Beispiel ein weißes Hemd in einem Koffer auf dunkles Leder zu legen, könnte zu der – unbegründeten – Sorge führen, dass das Leder abfärbt. In dem Fall überwiegt also der Kontext. Ein Koffer ist keine Handtasche – man muss sorglos weiße Sachen darin transportieren können.
ET: Als wir gestartet sind, war unsere Haltung so: Es gibt auf der Außenseite unserer Taschen kein Logo. Später haben wir dann bei Prototypen mit kleinen Logo-Aufklebern ausgetestet, wie das wirken könnte. Zu unserer Überraschung sah das oft viel besser aus, weil ein Logo auch eine Fläche strukturiert und das visuelle Bild des Produktes prägt.
GT: Behutsame Logo-Platzierung – auch so ein Thema, bei dem man viel von Rams lernen kann. Beim Taschenradio T 3 verlegte er das Braun-Logo diskret auf die Rückseite. Der leise Auftritt war und ist ihm jedenfalls näher als der laute. Und ein übertrieben großes Logo setzt er mit Lautstärke oder gar dem Schreien des eigenen Namens gleich … Sozusagen zum guten Ton gehört heute aber nicht nur formale Eleganz, sondern auch Nachhaltigkeit. Wie werdet ihr diesen Anforderungen gerecht?
ET: Dadurch, dass wir in Deutschland produzieren, mit eigenen Mitarbeitern, die wir auswählen, können wir die Produktionsbedingungen sehr gut steuern. Nachhaltigkeit fängt bei uns bei den Materialien an, die wir verwen­den. Um da die richtigen Entscheidungen treffen zu können, muss man gründlich recherchieren. Wir haben Messen besucht, die besten Reißverschlüsse ausfindig gemacht, die besten Leder ausgesucht und so weiter. Das zieht sich eigentlich bis heute durch.
DT: Das alles mit dem Hauptziel, dass wahre Nachhaltigkeit letzten Endes durch die Lebensdauer eines Pro­duk­tes definiert wird. Wir verstehen Gestaltung als eine Form von Nachhaltigkeit: wenn ein Produkt kein visuelles Verfallsdatum hat, eben nicht Trends folgt, kann es zu einem persönlichen Begleiter werden und über Jahre hinweg genutzt werden. Entsprechend baut alles auf dieser Idee auf.
Die Tasche 931 war ursprünglich ein privates Design von Dieter Rams.
Die Tasche 931 war ursprünglich ein privates Design von Dieter Rams, gedacht als „Hommage und Liebeserklärung” (Zitat Rams) an seine Frau Ingeborg. Nicht selten präsentiert TSATSAS die 931 zu­sam­men mit Braun- und Vitsœ-Entwürfen von Rams.
Foto: Gerhardt Keller­mann
© TSATSAS
GT: Im Werkverzeichnis von Dieter Rams findet sich als vorletzter Entwurf die Damenhandtasche 931, die ihr produziert. Wie kam es eigentlich zu der Zusammenarbeit? Und wie reagieren eure Kundinnen und Kunden auf den Entwurf?
DT: Direkt zu Anfang, also zum Launch der Tasche, gab es einen großen Artikel in der New York Times. Da hat man gemerkt, dass es in New York eine riesige Fanbase gibt für Dieter Rams.
ET: Ausgangspunkt war zunächst eine Kooperation mit Lore Kramer: Wir haben einen historischen Entwurf ihres verstorbenen Mannes, des berühmten Frankfurter Architekten Ferdinand Kramer, gemeinsam mit ihr und ihrer Tochter wieder auf den Markt gebracht. In drei Größen und drei Farben. Über dieses Projekt wurde Britte Siepenkothen auf uns aufmerksam, das langjährige Vorstandsmitglied der Dieter und Ingeborg Rams Stiftung. Sie meldete sich irgendwann bei uns und sagte: Es gibt da eine völlig unbekannte Tasche von Dieter, die er 1963 für seine Frau entworfen hat. Es existieren davon nur zwei Exemplare, die könnte sie uns gerne mal zeigen.
Die Damenhandtasche 931 reiht sich formal schlüssig neben andere Rams-Entwürfe aus den 1960er und und 1970er Jahren ein.
Die Damenhandtasche 931 passt formal schlüssig zu anderen Rams-Entwürfen aus den 1960er und 1970er Jahren.
Die Damenhandtasche 931 reiht sich formal schlüssig neben andere Rams-Entwürfe aus den 1960er und 1970er Jahren ein. Foto: Gerhardt Keller­mann
© TSATSAS
GT: Und die habt ihr dann einfach unverändert produziert?
ET: Fast. Die ursprüngliche Tasche hatte keinen Schulterriemen. Das heißt, wir haben eine Möglichkeit gefunden, einen solchen Riemen zu integrieren, ohne den Gesamtentwurf zu verändern. Und wir haben, ebenfalls in Absprache mit Dieter Rams, ein Reißverschlussfach innen geschaffen – da das erfahrungsgemäß etwas ist, das heute schon sehr gewünscht wird. Aber das waren die einzigen Elemente, die wir angeregt haben. Von den Proportionen her, wie sie aussieht, das komplette Design – das haben wir natürlich nicht angefasst.
GT: Neben der 931 in Schwarz und Hellgrau gibt es jetzt aber noch eine weitere Variante in Olivgrün.
ET: Bereits die graue Variante, als Alternative zur schwarzen, war eine Anregung von uns, die sein Wohlwollen fand. Abgeleitet von der Farbe seiner Vitsœ-Schrankelemente. Und das angesprochene Grün orientiert sich exakt an einem Farbton aus der Palette der Lederbezüge seines 620 Sesselprogramms.
GT: Solche Ableitungen sind für mich schlüssig und nachvollziehbar. Aber ihr schlagt auf vielen Fotos der Rams-Tasche auch optisch eine Brücke in die Vergangenheit: zu bestimmten Braun-Geräten oder kombi­niert die 931 mit anderen Entwürfen von Rams. Auf eurer Website, bei Instagram und einem 2022 erschie­nenen Ausstellungskatalog spielt eure Fotosprache eine besondere Rolle. Sie ist mal sachlich, mal sinnlich – aber nie bloß werblich. Wie habt ihr diesen wichtigen, visuellen Aspekt eures Brandings entwickelt?
ET: Mit der Gründung von TSATSAS starteten wir die Zusammenarbeit mit dem Fotografen und Industrie­desig­ner Gerhardt Kellermann, einer unserer engsten Freunde. Mit ihm entwickelten wir einen eigenen, besonderen Blick auf unsere Kollektion, der weit entfernt ist von der kommerziellen Modefotografie. Uns geht es immer darum, den Charakter eines jeden Produkts durch die Fotografie zu unterstreichen und in den Vordergrund zu bringen. Peu à peu begann dann Dimitrios immer häufiger unsere Kollektion zu fotografieren – die Produkte zu inszenieren und ihre spezifischen Eigenarten visuell herauszuarbeiten. Gleichzeitig fiel es uns aber auch leicht, da diese Objekte ja von uns selbst erschaffen wurden und niemand sie so in der Tiefe versteht und vermitteln kann wie wir.
Esther und Dimitrios Tsatsas im Gespräch mit dem britischen Architekten David Chipperfield.
Der Koffer SUIT-CASE sowie weitere dazu passende Ledertaschen und Accessoires.
Esther und Dimitrios Tsatsas im Gespräch mit dem britischen Architekten David Chipperfield. Mit ihm gemeinsam entwi­ckelten sie den Koffer SUIT-CASE sowie weitere dazu passende Ledertaschen und Accessoires. Produktfoto: Gerhardt Kellermann, Gruppenfoto: Alexander Kilian, beide:
© TSATSAS
GT: Eine weitere wichtige Kooperation läuft ja bereits seit einiger Zeit mit dem britischen Pritzker-Preisträger David Chipperfield …
DT: Ja, genau. Ebenfalls ein großer Gestalter, aber die beiden Projekte sind aus unserer Sicht nicht vergleichbar. Denn die Rams-Tasche existierte ja bereits als Entwurf. Mit David Chipperfield haben wir ganz von vorne begonnen. Unsere Zusammenarbeit startete mit seinem Wunsch nach dem idealen Koffer, den er seit Jahren vergeblich gesucht hatte. Der Koffer sollte Handgepäckgröße haben und ausreichend Platz für einen zwei- bis dreitägigen Trip bieten – sowie für einen Anzug, den David Chipperfield immer mit sich führt. Die Entwurfsarbeit fand in stetigem Austausch zwischen ihm und uns statt, bei physischen Treffen und Workshops sowie im Austausch von Skizzen und Modellen. Mit Fertigstellung des ersten Prototyps des SUIT-CASE begann er damit zu reisen und den Entwurf zu testen. Daraus entwickelte sich ein Prozess aus Nutzungs- und Opti­mierungs­phasen, der sich, auch Covid geschuldet, über insgesamt drei Jahre hinzog. Einer der Kernpunkte war die Gewichts­opti­mierung, durch die es uns gelang, einen nur 2,7 Kilo schweren Voll-Lederkoffer zu produzieren.
Beim Entwerfen von Taschen kommt es auf Proportionen, Verschlussmechanismen und Details an.
Beim Entwerfen von Taschen kommt es auf Proportionen, Ver­schluss­mecha­nismen und Details an. Esther und Dimitrios Tsatsas bevorzugen Papiere und Pappen, um schnell zu ersten Mo­dellen zu kommen. Foto: Gerhardt Kellermann
© TSATSAS
GT: Ähnlich wie bei Konstantin Grcic, beginnt der Gestaltungsprozess eurer Taschen oft mit Modellen aus Papier und Pappe, um Proportionen und Funktionen auszutesten. Sind diese klassischen, simplen Materi­alen immer noch digitalen Entwurfstechniken überlegen?
DT: Definitiv ja. Sowohl im Designprozess als auch in der handwerklichen Produktion nutzen wir keinerlei digi­tale Techniken. Wir skizzieren viel und schnell, tauschen uns ständig aus und gehen dann zügig in die Dreidi­men­sionalität. Hier arbeiten wir mit einfachen Papiermodellen oder auch Objekten aus Stoff, um direkt Propor­tionen zu definieren und das Auge für die relevanten Details eines Entwurfs zu schulen. Digitale Techniken könnten uns hier nie weiterhelfen, sondern eher die Kreativität durch gesetzte Abläufe und Hilfsmittel bremsen. Vor allem den Zufall als wichtiges Element des Entwurfsprozesses möchten wir nicht missen – viele unserer besten Entwürfe sind durch Trial and Error entstanden, durch stetiges Testen und Verwerfen. Und noch nie wurde ein TSATSAS Produkt gemäß der ersten Skizze auch tatsächlich finalisiert und umgesetzt.
Statt digitaler Renderings nutzt das Frankfurter Ehepaar Papier und Pappe, um die formale und funktionale Stimmigkeit ihrer Konzepte zu prüfen.
Knicken, Falten, Kleben: Statt digitaler Renderings nutzt das Frankfurter Ehepaar Papier und Pappe, um die formale und funktionale Stimmig­keit ihrer Konzepte zu prüfen.
Foto: Gerhardt Kellermann
© TSATSAS
GT: Was sind denn eure Pläne für die Zukunft? Strebt ihr zum Beispiel weitere Kooperationen mit nam­haften Designerinnen und Designern an?
DT: Es ist einiges in Planung, doch es braucht noch etwas Zeit bis neue Projekte spruchreif werden. Auf jeden Fall setzen wir unsere Zusammenarbeit mit den bisherigen Projektpartnern wie Kostas Murkudis, Chipperfield oder Kvadrat fort und sind hier intensiv am Arbeiten …
GT: Zum Abschluss: Habt ihr einen Rat für junge Gestalterinnen und Gestalter, die mit einer eigenen Produktion auch unternehmerisch tätig werden wollen?
ET: Stetig arbeiten, arbeiten, arbeiten. Immer wieder Dinge in Frage stellen, testen, verwerfen, ausprobieren. Nie stillstehen. Und das eigene Handwerk beherrschen – je tiefer hier das Wissen ist, desto weiter wird man kommen.

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