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Jasper Morrison Porträt vor Holzwand
Jasper Morrison, porträtiert von Elena Mahugo    © Jasper Morrison Ltd.

„Manche Designer haben eine vollständige Vision der Zukunft“

Interview mit Jasper Morrison von Gerrit Terstiege
Die klare, ruhige und präzise Produktsprache von Jasper Morrison wurde schon oft mit der von Dieter Rams in Verbindung gebracht. Wir wollten wissen, wie Morrison heute über das Erbe von Rams denkt, ob er bestimmte Braun-Produkte für „super normal“ hält – und warum er als Designstudent nach Deutschland ging.
GT: Ich möchte zunächst einen weiten Blick zurück werfen: zu Ihrer Zeit in Berlin und an der dortigen Hochschule der Künste Ende der 1980er Jahre. Warum sind Sie eigentlich nach Deutschland gegangen? War es der Ruf des deutschen Designs oder die künstlerische und experimentelle Atmosphäre in Berlin damals?
JM: Ich studierte bereits am Royal College und war auf Dieter Rams aufmerksam geworden, da ich seit meinem 17. Lebensjahr eine der weißen Radio-/Plattenspieler-Kombinationen mit transparentem Deckel und Holzflanken in meinem Zimmer hatte. Natürlich hatte ich auch vom Bauhaus gehört und von Marcel Breuer, einem der Meister des Möbeldesigns, was mein Fachgebiet war. 1982 traf ich Andreas Brandolini auf einer Konferenz europäischer Designer namens „Rastlos” an der österreichisch-ungarischen Grenze und wir wurden Freunde. Ich hatte ein Angebot, in Deutschland zu studieren, und wurde unterstützt von einer Organisation namens Shakespeare Foundation, die die Beziehungen zwischen England und Deutschland fördert.
GT: Wo haben Sie denn den „Schneewittchensarg“ gefunden? In England oder in Deutschland?
JM: Der SK 55 gehörte ursprünglich meinem Großvater mütterlicherseits. Er war der Chef von Danish Bacon in Großbritannien. Ein Zimmer seines Hauses hatte er Anfang der 1960er Jahre im modernen, skandinavischen Stil eingerichtet – mit Dingen, die er auf seinen Dänemark-Reisen erworben hatte. Dieses Zimmer hat mich als Kind tief beeindruckt. Und einer der Gegenstände in diesem Raum war eben ein Braun SK 55. Jedes Mal, wenn wir meine Großeltern besuchten, landete ich in irgendwann diesem Zimmer. Ich konnte es mir damals nicht erklären, aber im Nachhinein erkannte ich, dass die Atmosphäre dieses hellen, luftigen Raums eine Verbesserung gegenüber den damals typischen englischen Wohnzimmern war. Ich fühlte mich dort einfach besser als anderswo – und später wurde mir klar, dass mein Wohlbefinden irgendwie damit zusammenhing, wie ich auf meine Umgebung reagierte. Später nutzten meine Eltern den SK 55 und ich habe ihn dann von ihnen übernommen.
Skizze im Skizzenbuch von Jasper Morrison von 1959. Zu sehen der Schneewitchensarg.
Sketchbuch des jungen Jasper Morrison – auf dieser Zeichnung deutlich zu erkennen: der Schneewittchensarg im Zimmer in seiner Schule, der ursprünglich seinem Großvater gehört hatte.
© Jasper Morrison Ltd.
GT: Was ist aus dem Gerät geworden?
JM: Ich hatte ihn bis ich etwa 28 war und habe ihn dann Ende der achtziger Jahre einem Assistenten geschenkt. Das Gerät war drei Generationen lang im Besitz meiner Familie und wurde dann von einem jüngeren Designer übernommen, so dass er ein glückliches, langes Leben hatte!
GT: Das sogenannte Neue Deutsche Design der 1980er Jahre war ja sehr anti-funktionalistisch und eher gegen die Massenproduktion eingestellt. Gruppen wie Pentagon, GINBANDE oder Kunstflug waren angesagt – und sie bezogen auf unterschiedliche Weise Position gegen die Bauhaus-Tradition, gegen die HfG Ulm, gegen Braun und Rams. Wie haben Sie damals auf diese Tendenzen reagiert?
JM: Nun, es waren Kollegen und Zeitgenossen, und wir kamen gut genug miteinander aus. Wir alle hatten unterschiedliche Herangehensweisen und Ansichten, aber die allgemeine Stimmung war, dass wir Neuland erkundeten. Das Bauhaus und der Werkbund waren für mich relativ neu und ich sah enorme Möglichkeiten, sie neu zu interpretieren.
GT: Sie entschieden sich für ein Studium an der Hochschule der Künste Berlin (heute Universität der Künste Berlin) – Dieter Rams war damals Designprofessor in Hamburg. Sie hätten bei ihm studieren können … War Ihnen das bewusst?
JM: Nein, das war es nicht. Ich habe damals nicht mal daran gedacht, dass er vielleicht unterrichtet. Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich mich bewerben können. Aber Berlin hatte durchaus seinen Charme und ich war sehr froh, dort zu sein. Ich bin mir auch nicht sicher, ob sich Dieter besonders für die Ready-Made-Möbelprojekte interessiert hätte, an denen ich damals arbeitete!
GT: Sie haben Standardprodukte für chemische Verfahren – Trichter, Rohre, Schläuche – frei kombiniert und beispielsweise daraus eine Lampe gebaut. Würden Sie heutigen Studierenden so einen spielerischen Umgang mit Design empfehlen?
JM: Es war eine großartige Möglichkeit, die Komplexitäten der Herstellung kennenzulernen. Ich habe immer noch die Preislisten, was die einzelnen Komponenten damals kosteten und wie hoch die Gesamtkosten für einen Entwurf sein würden. Wenn es keine echte Möglichkeit gibt, etwas produzieren zu lassen, dann empfehle ich dringend, einen anderen Herstellungsweg auszuprobieren, was auch immer das sein mag. Ich habe jedenfalls auf die Art gelernt, bei meinen Entwürfen mit Bedacht vorzugehen, denn jedes Teil eines Produkts hat schließlich seinen Preis.
Plywood Chair designt von Jasper Morrison für Vitra
Morrisons radikal reduzierter Plywood Chair für Vitra, 1988.
© Jasper Morrison Ltd.
TV von Sony, designt von Jasper Morrison und John Tree in 1998
Hifi Anlage von Sony, designt von Jasper Morrison und John Tree 1998
Unrealisierte Konzepte für einen Flachbildschirm-Fernseher und eine HiFi-Einheit, entworfen zusammen mit John Tree für Sony, 1998
© Jasper Morrison Ltd.
GT: Wann haben Sie eigentlich gemerkt, dass formale Einfachheit für Sie als Designer der passende Weg ist?
JM: Mir ist jetzt klar, dass dies der einzige Weg war, der mir zur Verfügung stand. So bin ich programmiert. Die Herausforderung, Dinge zu vereinfachen, ist so viel befriedigender als sie zu verkomplizieren.
GT: Ihr allererster Serienentwurf war die Türgriffserie FSB 1144. Spielte es für Sie eine Rolle, dass Franz Schneider Brakel ein deutsches Unternehmen ist? Und haben Sie den Klinken bewusst einen „deutschen Look” gegeben?
JM: Die Anfrage von Jürgen W. Braun, dem damaligen Geschäftsführer von FSB, kam aus heiterem Himmel, nachdem 1988 ein Artikel über meine Arbeit in der Zeitschrift Domus erschienen war. Ich kannte Deutschland ja und es war eine reizvolle Idee, dort an einem echten Produkt zu arbeiten.
FSB Türklinken designt von Jasper Morrison
Türdrücker-Serie 1144 für FSB, Jasper Morrisons erste industriell hergestellte Entwürfe, 1990
Foto: Timm Rautert / © FSB
GT: Was ist Ihrer Meinung nach die größte Leistung von Dieter Rams als Designer?
JM: Es ist außergewöhnlich selten, aber einige Designer haben eine vollständige Vision der Zukunft. Und ich denke, Rams‘ größte Leistung bestand darin, eine klare Vorstellung davon entwickelt zu haben, wie die nächsten zwei Jahrzehnte design-ästhetisch aussehen würden. Und zwar so klar, dass ihm jeder folgte.
GT: Meinen Sie die 1960er und 1970er Jahre? Mein Eindruck ist, dass seine Vision noch viel weiter reicht. Bis heute engagiert er sich sehr für die Zukunft des Designs und der Designausbildung.
JM: Ich meine, dass er in diesen beiden Jahrzehnten den Weg gezeigt hat und andere ihm gefolgt sind – dass er damals mehr Einfluss auf die Designästhetik hatte als jeder andere. Und dass sein Beitrag daher bis heute nachwirkt. Der Respekt, den ihm die Design-Szene entgegenbringt, beweist das.
GT: Gibt es in Ihren Augen eine neue Entwicklung im Design, die den Beruf grundsätzlich verändern wird? Beispielsweise Künstliche Intelligenz?
JM: Ich denke, dass Künstliche Intelligenz einen großen Einfluss auf das Design haben wird – aber wie viel von der Arbeit des Designers damit wirklich übernommen werden kann, bleibt abzuwarten. Künstliche Intelligenz kann ja nur binär denken. Sie kann vielleicht sehr gut darin werden, das, was bereits entworfen wurde, neu zu interpretieren. Aber ich bezweifle, dass Künstliche Intelligenz jemals in der Lage sein wird, wie ein Mensch eine Zukunftsvision zu entwickeln, also etwas wirklich Neues. Möglicherweise fehlt es der KI schlicht an Spontaneität, wer weiß?
Ausstellungsraum der "Super Normal" Ausstellung in der Axis Galerie in Tokio, 2006
Ausstellung „Super Normal”, Axis Galerie, Tokio, 2006, kuratiert von Morrison zusammen mit Naoto Fukasawa
© Jasper Morrison Studio / Axis Gallery
GT: Ich habe die von Ihnen und Naoto Fukasawa konzipierten „Super Normal”-Ausstellungen immer als ein Projekt in der Tradition des Deutschen Werkbunds gesehen. Aber kann man den Menschen wirklich beibringen, eine Designsprache besser zu verstehen, indem man sie mit gut gestalteten Objekten konfrontiert?
JM: Ja, da bin ich mir sicher. Genauso wie ich selbst vom Rams/Gugelot-Plattenspieler oder von Eileen Grays Entwürfen begeistert war. Es kommt einfach darauf an, aufmerksam durch die Welt zu gehen.
GT: Aber ich habe mich wirklich gefragt, ob Rams Entwürfe in Ihren Augen in die Kategorie „Super Normal“ fallen … Nehmen wir zum Beispiel sein RT 20-Radio: Es wirkt auf mich überhaupt nicht „normal”, sondern absolut außergewöhnlich. Ganz gleich, wo es in einem Raum steht – übersehen wird es ganz sicher nicht. Eher zieht es sogar die Aufmerksamkeit auf sich … Was ist Ihre Meinung zu Rams-Produkten? Würden Sie die als „super normal” bezeichnen?
JM: Ich würde sie gerne als „super normal“ auffassen. Das RT 20 ist formal zurückhaltend und in puncto Optik und Präsenz relativ diskret, obwohl das grafische Layout der Front und besonders das Lautsprechergitter zum Hinsehen einladen. Und es hat eine positive Ausstrahlung und Wirkung auf die Atmosphäre in einem Raum – eine für mich typische Eigenschaft von „Super Normal“-Dingen. Aber ich sollte vielleicht erklären, was ich überhaupt unter einer guten, atmosphärischen Wirkung verstehe. Wenn Sie einen Gegenstand in einen Raum bringen, der optisch laut, unharmonisch oder einfach nur hässlich ist – und Aufmerksamkeit erregt – wird die Atmosphäre im Raum nicht verbessert, sondern verschlechtert. Eine gute Atmosphäre entsteht durch das Hinzufügen einer Reihe relativ diskreter Objekte mit zurückhaltenden formalen Qualitäten, die einen positiven und kraftvollen atmosphärischen Effekt haben und Interesse erzeugen. Ich behaupte nicht, dass das eine allgemein gültige Vorstellung von „guter Atmosphäre“ ist, aber es ist eben meine eigene Sichtweise, nachdem ich viele Jahre lang beobachtet habe, welche Auswirkungen Objekte auf unsere Lebensweise haben.
Stühle "All Plastic Chair" designt von Jasper Morrison für Vitra
APC (All Plastic Chair) gestaltet von Jasper Morrison für Vitra, 2016
© Vitra
GT: Glauben Sie, dass eine Gesellschaft durch gutes Design verbessert werden kann? Kann Design das Leben verbessern?
JM: Absolut, wer mag denn schon eine schlechte Atmosphäre? Und wie sonst bekommt man eine gute?
GT: Haben sich Ihre Ansichten über bestimmte Produkte von Dieter Rams im Laufe der Jahre geändert?
JM: Nicht viel, aber ich freue mich immer sehr, wenn ich sehe, wie frisch sie immer noch aussehen.
GT: Das sehe ich genauso – aber oft werden sie, vor allem auf Instagram, in einem inszenierten Mid-Century-Ambiente präsentiert, das nach wie vor ein sehr dominanter Interior-Trend ist. Wie stehen Sie als zeitgenössischer Designer zu den Retrotrends im Design? Es scheint fast, als würde die Vergangenheit im Design auch unsere Zukunft sein …
JM: Wenn man Enzo Maris Theorie folgt, dass ein Objekt erst dann wirklich bewertet werden kann, wenn es 45 Jahre alt ist, dann ergibt es Sinn, dass wir mit älteren Dingen leben. Jedes Objekt, das – kurz nach seiner Fertigstellung oder nach 45 Jahren – eine gute Atmosphäre schafft, ist ein gutes Design. Retrotrends können für die Menschen hilfreich sein, die sich ein eigenes Urteil nicht zutrauen.
GT: Eine letzte Frage: Wie stehen Sie zum Begriff „Zeitlosigkeit“? Glauben Sie, dass Zeitlosigkeit im Design erreicht werden kann?
JM: Ich glaube, dass es Objekte gibt, die immer frisch aussehen und zeitlos bleiben. Schauen Sie sich etwa einen Bugholzstuhl von Thonet oder Kohn an. Um so etwas zu erreichen, muss man auf Stilelemente verzichten und eine gute Funktionalität bieten. Das Aussehen ist wichtig, doch gibt es viele Produkte, die auf den ersten Blick gut aussehen, aber nicht länger als ein paar Jahre halten. Daher muss das Aussehen durch die anderen Kriterien gewissermaßen kontrolliert werden.
Rado Armbanduhr designt von Jasper Morrison in 2009
Armbanduhr-Entwurf von Jasper Morrison für den Schweizer Hersteller Rado, 2009
© Xavier Perrenoud/XJC, 2024

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