Suche

„Rams hat uns gefordert!”

Interview mit Jürgen Werner Braun von Gerrit Terstiege
Jürgen Werner Braun war von 1977 bis 2001 Geschäftsführer des Beschläge-Herstellers Franz Schneider Brakel. In den 1980er Jahren lud Braun namhafte internationale Gestalter und Architekten ein, für FSB Entwürfe zu machen. Hier berichtet er über seine Haltung als Unternehmer – und gibt Ausblicke, was für Design-Unternehmen in Zukunft wichtig wird.
GT: Kürzlich präsentierte FSB eine neue Klinkenserie, die von Foster + Partners entworfen wurde. Aktuell finden sich auf der Website Ihres ehemaligen Unternehmens weitere große Namen aus Design und Architektur, zum Beispiel Jasper Morrison, Le Corbusier, Otl Aicher. Das setzt etwas fort, das Sie 1986 mit dem Klinken-Workshop begonnen haben. Neben Dieter Rams, waren etwa auch Mario Botta, Peter Eisenman, Hans Hollein und Alessandro Mendini eingeladen. Wie war die Idee damals entstanden?
JWB: Okay – als ich bei FSB anfing, war das Unternehmen ein typischer Zulieferungsbetrieb, der von etwa hundert Partnern lebte, die regelmäßig kleine Aufträge vergaben. Und so gab es bei uns viele Spezialisten. Der eine konnte gut mit Aluminium, der andere mit Edelstahl, der dritte konnte Kisten sauber zusammenbauen und dergleichen. Es fehlte aber irgendwie … die Linie. Und für Architekten waren wir auch kein Begriff. Doch ich sagte mir: an die musst du ran! Die Idee kam mir dann bei einem Besuch des Architekturmuseums in Frankfurt, das damals unter der Leitung von Heinrich Klotz inhaltlich neu ausgerichtet worden war. Dort gab es die Ausstellung „Revision der Moderne” über die Zeit zwischen 1960 und 1980, die Phase der Postmoderne. Diese Ausstellung musste man 1984 einfach gesehen haben! Da bin ich also hingefahren und habe mich durchgefragt, wer denn hier Chef ist. Der stellvertretende Direktor war Volker Fischer, der Direktor Heinrich Klotz. Ich habe mich beiden vorgestellt, von meinem Interesse an zeitgenössischer Architektur erzählt und viele Fragen gestellt. Ich bekam den Katalog zur Ausstellung geschenkt und mir wurde gesagt, ich solle den doch erst mal in Ruhe studieren und die Namen, zu denen ich mehr wissen will, mit Bleistift anstreichen. Dann könne ich mich gerne wieder melden.
Jürgen Werner Braun
Jürgen Werner Braun in seiner Zeit als Geschäftsführer von Franz Schneider Brakel.
© FSB
Die Revision der Moderne Cover
Türklinken - Workshop in Brakel Cover
Links: Ausstellungskatalog „Revision der Moderne”, der Jürgen Werner Braun wichtige inhaltliche und gestalterische Impulse gab.
© Prestel

Rechts:
Von Otl Aicher gestaltete Publikation zum Workshop in Brakel

© FSB
GT: Sie hatten also gemerkt: es gab Nachholbedarf. Sowohl für FSB als Unternehmen als auch für Sie als gelernter Jurist ohne große architektonische oder ästhetische Vorbildung. Aber Ihr Vorgehen zeugt ja auch von Offenheit und Neugier.

JWB: Ganz so unbeleckt war ich nicht. Ich hatte als Student das Glück, dass ein Bonner Professor mir ein Auslandssemester finanzierte mit einem kleinen Forschungsauftrag. Da bin ich nach Paris gegangen und habe mich an der Uni eingeschrieben, an der Rechtsfakultät. Und an den Wochenenden habe ich mir die Museen angeschaut und noch bei der École du Louvre eingeschrieben. Das war eine wunderbare Erfahrung, die mir viele neue Sichtweisen und Erkenntnisse eröffnet hat. Und nach der Lektüre des Frankfurter Ausstellungskatalogs habe ich dann zwölf Architekten und Designer ausgewählt und angeschrieben, ob sie sich vorstellen könnten, eine neue Türklinke zu entwerfen. Seltsamerweise haben sie alle geantwortet.

GT: Das Konzept, für eine ganz bestimmte Produktkategorie mehrere Gestalterinnen und Gestalter zu fragen, die dann das jeweilige Objekt sozusagen in ihrem Trademark-Stil entwerfen – das wurde in den 80er Jahren geboren. Ein Beispiel war das Alessi-Projekt „Tea & Coffee Piazza”, das auf Alessandro Mendini zurückgeht, den Sie ja auch zum Workshop eingeladen haben. Ein anderes, übertragen auf die Architektur, ist der Vitra Campus.
FSB-Workshop Teilnehmer
Die Teilnehmerin und die Teilnehmer am FSB-Workshop: Angela Knoop, Shoji Hayashi, Dieter Rams, Alessandro Mendini, Hans-Ullrich Bitsch, Mario Botta, Initiator Jürgen Werner Braun, Hans Hollein, Peter Eisenman, Petr Tucny.
© Timm Rautert
JWB: Ja, natürlich. Rolf Fehlbaum und ich sind uns immer wieder freundschaftlich begegnet. Wir hatten sogar die Ehre, zusammen mit Adi Dassler in der Masterarbeit einer holländischen Designerin zu den drei „Ausbrechern” gezählt zu werden, die es in Platons Höhle nicht mehr aushielten und die Schattenwelt einfach verließen, um draußen in der Welt ihre Unternehmen und Produkte (Sportschuhe, Stühle, Türklinken) neu zu inszenieren und zu gestalten.
GT: Otl Aicher, Ihr Gestalter und Berater in Designfragen, war über die Einladung Mendinis aber nicht amüsiert. Weder Aicher noch Rams sind für pluralistische, stilistische Experimente bekannt …
JWB: Unser Projekt, der Klinken-Workshop, ist aber nur deshalb so ein Erfolg geworden, weil das mutig war. So etwas hatte noch keiner diesseits der Alpen gewagt. Und was herauskam, hat seine Wirkung erzielt und FSB gerade unter jungen Architekten bekannt gemacht. Die sagten: endlich mal was Neues!
GT: Blickt man heute auf die Design-Tendenzen der 80er Jahre und die Postmoderne zurück, scheint vieles ziemlich exaltiert und nicht besonders gut gealtert. Aber natürlich mussten Hersteller damals auf diese Strömungen reagieren. War dieses polarisierende Jahrzehnt Ihrer Ansicht nach in den Gestaltungsdisziplinen eine spannendere Zeit als die heutige?
JWB: Ich bin der Ansicht: nein. Die heutige Zeit ist genauso spannend. Man muss nur mit offenen Augen durch die Welt laufen. Sicher hat vieles zwei Seiten, wie aktuell die KI. In Stanley Kubricks berühmtem Film „2001: Odyssee im Weltall” überlebt ja ein Mensch ganz am Ende, nach dem Kampf mit dem Riesencomputer HAL, der gewissermaßen das erste Modell der künstlichen Intelligenz darstellt. Und für mich ist dieser Überlebende des Ausflugs ins Weltall – das ist eben der Designer, der in der Welt der künstlichen Intelligenz zu überleben sucht. Denn ohne die Menschen wird es keine Neuerung geben, keine Innovation. Was uns vorgegaukelt wird heute mit der künstlichen Intelligenz, ist ja nichts anderes als ein großer Sammelteich der Erfahrungen der Menschheit. Dabei wird oft nur der alte Mist durcheinandergewirbelt und wieder aufbereitet – Versatzstücke – und dann wird gesagt: das ist neu!
form 45
Titelblatt der Zeitschrift form mit einem Motiv aus dem Film „2001: Odyssee im Weltraum” von Stanley Kubrick
© Verlag form
GT: Der Film wurde auch in der Designszene in Deutschland rezipiert – ein Filmstill aus „2001: A Space Odyssey” findet sich 1969 auf dem Cover der Zeitschrift form … Aber um zu verstehen, dass dieser Film heute noch relevant ist – auch für das Design – dazu müsste ihn die junge Gestalter-Generation überhaupt erst einmal kennen. Was mich zu meiner nächsten Frage führt: Designgeschichte wird an vielen Hochschulen in Deutschland kaum noch gelehrt. Wie sehen Sie die Bedeutung von Designgeschichte in der Ausbildung junger Gestalterinnen und Gestalter?
JWB: Ja, das wird ja kaum noch oder seltener gelehrt. Dabei wäre das ganz, ganz wichtig. Designgeschichte kann ja auch wirklich spannend sein. Auf dem Rückflug von New York, ich hatte mir dort eine Memphis-Ausstellung angesehen, las ich im Katalog von Barbara Radice. Und irgendwann kamen die Stewardessen zu mir und wollte das Abendessen servieren. Ich hatte völlig die Zeit vergessen und lehnte sogar das Essen ab, denn ich hatte ja das Buch noch nicht ganz durch! (lacht) Man sollte als Gestalterin oder Gestalter wissen, zu welchen Lösungen man in der Vergangenheit gekommen ist und warum. Aber es ist durchaus komplex: Zum Beispiel die Ulmer Hochschule bestand ja nicht nur aus Aicher und Gugelot. Da haben ja viele gearbeitet, oft mit ganz unterschiedlichen Haltungen. Es gab auch Streit. Und was dann die Schüler aus dem Gelernten alles gemacht haben. Clivio etwa mit seinen einmaligen Schlauchverbindungen, Neumeister mit den Zügen, Zeischegg mit seinen modularen Studien … was man daraus lernen kann, ist auch, wie vielfältig die Gestaltungsgeschichte ist und wie das Design sich immer dem Zeitgeist anpasst. Es gibt keine stur-gerade Entwicklung wie den Funktionalismus. Das gibt’s nicht.
FSB Publikation
Publikation „FSB Hinweiszeichen – Kommunikation ohne Worte”, die anlässlich des 100. Geburtstags von Otl Aicher aufgelegt wurde.
© FSB
GT: Dieter Rams hat mehrfach betont, dass er das Wort „Funktionalismus” gar nicht mag. Er meidet grundsätzlich „Ismen” – grobe Zuordnungen, von denen sich in der Design- und Kunstgeschichte ja viele finden. Wenn man sich seine besten Entwürfe anschaut, ist sein großes Gespür für Farben, für Materialverbindungen, für Proportionen erkennbar. Sein Sinn für Ästhetik. Es geht bei ihm eben nicht nur um die reine Funktion.
Besprechung
Besprechung in Kronberg: Jürgen Werner Braun und der FSB-Technikleiter Hans Barth besprechen mit Dieter Rams Details seiner Entwürfe. Am Vitsœ-Schreibtisch: die markante, schwarze Leuchte von Jieldé.
© Timm Rautert
JWB: Also, als ich das erste Mal bei ihm zu Hause war, fiel mir seine Schreibtisch-Lampe auf. Und als er kurz in ein anderes Zimmer ging, habe ich mal schnell geguckt, was für eine Lampe das war. Eben eine Jieldé – eine französische Werkstatt-Leuchte. Beim nächsten Frankreichurlaub habe ich mir gleich eine weiße und eine schwarze besorgt. Sehr solide, die gehen nicht kaputt. Ganz unprätentiös. Ich finde die großartig in ihrer Klobigkeit und Ehrlichkeit. Dann habe ich mich natürlich auch für den Designer Jean-Louis Domecq interessiert und für das Werk in Lyon.
GT: Auf einer aktuellen Porträtaufnahme von Jony Ive und Marc Newson zeigen sich die beiden auch mit schwarzen Jieldé-Leuchten. Wie das wohl kommt?! Aber dass ein Hersteller wie Jieldé heute fast nur auf ein Produkt setzt, oder auf eine kleine Auswahl, ist immer mehr die Ausnahme. Aktuell verfolgen viele Designunternehmen eine Strategie der denkbar breiten Produktpaletten. Stilistisch kann man von den meisten Herstellern heute alles bekommen, von minimalistisch bis verspielt. Geht da nicht so etwas wie eine Haltung verloren?
JWB: Zu einem gewissen Grad verstehe ich diesen Versuch, es vielen recht zu machen. Ich bin ja auch Marketingmann. Ich habe ja Erfolg gehabt mit dem ganzen Mist. Der Beirat von FSB hat mir zum Abschied geschrieben, ich hätte sie davon überzeugt, dass man mit Schönem doch Geld verdienen kann. Ja, ich bin zu manchen Schandtaten bereit, wenn ich weiß: damit kann ich Geld verdienen, den Umsatz steigern und anderen Leuten eine Freude machen. Aber es gibt Grenzen.
GT: Künstliche Intelligenz, Sie hatten es schon erwähnt, ist ja das Schlagwort der Stunde. Drängende Umweltfragen rücken aktuell in den Vordergrund. Wagen Sie bitte mal einen Ausblick auf die kommenden Jahrzehnte. Wie wird sich das Design in Zukunft verändern?
JWB: Man wird Dingen immer ansehen können, woran einer sich orientiert hat. Also an die freie Fantasie eines Philippe Starck wird man mit KI nicht herankommen. Da muss man ihn schon persönlich ansprechen, wie ich es getan habe. Doch ich sehe jetzt noch nicht die Zukunft. Niemand kann das. Es wird eine neue Technik kommen, manche Dinge werden verschwinden. Das kann ich mir vorstellen. Im Haus von Bill Gates sollen Monitore statt Gemälden an der Wand hängen. Das ist doch furchtbar, nicht? Viele Dinge, die wir heute noch gegenständlich sehen, werden künftig vielleicht gar nicht mehr da sein.
Fledermaus
Jürgen Werner Braun gewann den französischen Zeichner Tomi Ungerer (1931 - 2019) für eine Serie, mit der FSB die Klinken in Anzeigen und Postkarten bewarb. Hier das Motiv „Fledermaus” mit Rams-Klinken.
© FSB
GT: Kommen wir zur letzten Frage: Was halten Sie heute und künftig für wichtig in Unternehmen? Etwa mit Blick auf das Management und auf gestalterische oder technische Prozesse.
JWB: Als Unternehmer hat man eine Führungspflicht. Sie müssen sich auch für die Sorgen der Damen am Empfang oder für die des Hausmeisters interessieren. Ich bin einmal in der Woche durch die Fertigung gegangen. Das habe ich immer so gehalten. Man muss mit allen reden.
GT: Also auch für heutige und künftige Unternehmer ist es wichtig, diese Nahbarkeit herzustellen?
JWB: Ja, dieser sogenannte neue Witz hier mit dem Home Office, da schaden sich die Unternehmen alle selbst. Die Leute sollten besser zusammenkommen, ein Team bilden, miteinander sprechen. Und sich da auch gegenseitig weiterbringen, abgleichen und so weiter. Wenn die Kommunikation fehlt und das echte Interesse an der Zusammenarbeit, dann wird man auch nichts gemeinsam auf die Beine stellen. Die Begegnung, das persönliche Gespräch ist entscheidend. Deswegen bin ich auch mit meinem technischen Leiter zu Rams gefahren, als es an die Umsetzung seines Klinken-Entwurfs ging. Der saß mit mir vor der Lampe und hat mit Rams darüber gesprochen, mit welchem Muster der Kunststoff angelegt werden sollte. Kleine Pünktchen oder kleine Linien? Und wenn ja, wie klein sollten die sein? Rams brachte Muster mit aus seiner Werkstatt. Manche Teile sollten mattglänzend sein, andere sollten eine bestimmte Struktur haben. Und das alles in der gleichen Kokille, nicht? Rams hat uns gefordert! Gezwungen, etwas zu tun, was wir sonst mit Metall anders und einfacher gelöst hätten. Aber er kam mit seinem bei Braun geschulten Verständnis. Hatte das auch wahrscheinlich schon jahrelang versucht und wusste um die Schwierigkeiten. Und war dann glücklich, als wir das hinbekommen haben.
Dieter Rams
Türklinken
Links:
Dieses Porträt von Dieter Rams mit seinen Klinken-Entwürfen wurde vielfältig von FSB genutzt, auch als großformatiges Poster.
© Timm Rautert

Rechts: Produktaufnahmen der Rams-Klinken.
© FSB

Weitere Beiträge

Jonathan Ive zieht Brille ab Portrait

Jonathan Ive

Zahlreiche internationale Gestalterinnen und Gestalter haben bekundet, wie viel ihnen das Werk von Dieter Rams bedeutet. Doch die Wirkung dessen, was Jonathan Ive durch Worte und Taten für das Revival des Braun-Designs der Ära Rams getan hat, war und ist immens und sorgt für eine weltweite Resonanz – bis heute. Zeit für ein Gespräch mit dem langjährigen Apple-Designchef.

Fabio De'Longhi

2012 übernahm die familiengeführte De’Longhi Group die Sparte Braun Household. In unserem Interview spricht Fabio De’Longhi darüber, wie er das Erbe von Dieter Rams sieht und was er von der Zukunft in Bezug auf Design, Produktionsmethoden und Managementstrategien erwartet.

Lord Norman Foster in den Räumen seines Stiftungsgebäudes in Madrid beim Interview über Dieter Rams   Filmstill ©  Norman Foster Foundation

Lord Norman Foster

Lord Norman Foster über Dieter Rams: „Sein Werk ist in vielerlei Hinsicht subtil. Wie er Farben einsetzt und Material-Kontraste. Sein Werk ist wunderbar optimistisch. Es hat eine bestimmte Leichtigkeit und Eleganz.”

Suche