Illustration des Interviews in der Zeitschrit Capsule April 2023
© Capsule Magazin, Mailand
„Ach, Erleuchtungen gibt es ja nur selten“
Interview Hans Ulrich Obrist mit Dieter Rams
Hans Ulrich Obrist (HUO): Sie haben Architektur studiert, nicht Design, und ich habe gehört, wie Sie darauf hingewiesen haben, dass einige der besten Designer in Wirklichkeit als Architekten ausgebildet wurden. Warum denken Sie, dass Architekten so gute Designer sind? Können Sie Ihren Übergang von der Architektur zum Produktdesign beschreiben?
Dieter Rams (DR): Architektur und Produktgestaltung haben Gemeinsamkeiten. Es geht um die Auswahl von Materialien, es geht um Proportionen, den Einsatz von Farbe und nicht zuletzt um Funktionalität. Es geht aber auch um emotionale Zugänge, um Zeichenhaftigkeit, um Bedeutungen. Da haben beide Professionen Schnittmengen miteinander. Der Architekt Dr. Hans Soeder, der als Direktor die Werkkunstschule Wiesbaden reformierte, die ich besuchte und als Architekt und Innenarchitekt abschloss, nannte seinen Unterricht „Gestalten für Raum und Gerät“. Da gab es also in meinem Studium schon eine enge Verbindung. In Italien gab es lange Zeit keine Ausbildung für Produktgestalter, daher waren es fast alles Architekten, die sich mit Produkten beschäftigten. In Deutschland war das bis in die 50er Jahre auch nicht viel anders.
HUO: Können Sie das Designethos im Nachkriegsdeutschland zur Zeit Ihres Studiums und zu Beginn Ihrer Karriere beschreiben? Wie hat dieser kulturelle Kontext Sie beeinflusst? Was haben Sie von der Ulmer Schule gelernt?
DR: Von der HfG Ulm habe ich nicht wirklich etwas gelernt. Ich hatte da schon meinen Wiesbadener Hintergrund, der sich durch den Architekten Dr. Hans Soeder ebenfalls auf die Moderne der 20er Jahre bezog. Er war damals Mitglied in der Architektenvereinigung „Der Ring“, dem auch Walter Gropius, Hugo Häring, Hans Scharoun, Adolf Meyer, Ernst May, die Gebrüder Luckhardt und Taut oder Mies van der Rohe angehörten. Ein wirklich neues Designethos in der frühen deutschen Nachkriegszeit gab es meiner Meinung nach nicht. Da herrschte immer noch das sogenannte „Gelsenkirchener Barock“ mit üppigen Formen und Dekoren, nicht nur bei Möbeln, sondern auch bei den Radiogeräten vor. Die Nierentischästhetik mit den dünnen Möbelbeinchen und Tütenleuchten war für mich auch kein Fortschritt, sondern eher Kitsch. Handwerk aber war für mich durchaus wichtig, ich hatte ja selbst eine Lehre als Tischler absolviert. Fraglos hat die HfG Ulm neue Wege beschritten, aber auch die Folkwangschule in Essen und manche andere und eben auch Wiesbaden. Als Studenten machten wir eine Exkursion in den ersten deutschen Showroom von Knoll international nach Stuttgart und was ich dort sah, hat mich sehr beeindruckt. Ich hatte aber mehr Interesse an Architektur. Meine zwei Jahre im Frankfurter Architekturbüro von Otto Apel, später ABB, waren für mich sehr wichtig, auch durch den Kontakt des Büros zu Skidmore, Owings and Merrill in Chicago. Ich kam dann eher durch Zufall zum Unternehmen Braun, zunächst als Architekt und nach sechs Monaten haben Sie mich gefragt, an ein paar Produktdesigns zu arbeiten, weil man eine interne Designabteilung aufbauen wollte, die eng mit den Technikern zusammenarbeiten sollte. Wie so oft, war es ein Glücksfall. Da ich eine Erlaubnis durch Erwin Braun hatte, auch selbständig zu arbeiten, konnte ich auch als freiberuflicher Möbelgestalter tätig werden. So entstand das Unternehmen Vitsœ, zunächst zusammen mit Otto Zapf, dann vor allem mit Niels Wiese Vitsøe, später und bis heute mit Mark Adams in Großbritannien. Ich bin selbstverständlich sehr stolz, dass mein Regalsystem 606 und mein Sesselprogramm 620 bis heute erfolgreich hergestellt und weltweit vertrieben werden.
HUO: Abgesehen von Ihren ikonischen Designstücken sind Sie vor allem für Ihre 10 Designthesen bekannt. Es handelt sich dabei um eine Art Manifest für Design, das vor allem für Jonathan Ive von Apple zu einer wichtigen Referenz geworden ist. Sind sie im Laufe Ihrer Arbeit organisch entstanden oder waren sie eine Art Erleuchtung? Gibt es heute Marken oder Designer, die Ihrer Meinung nach Ihre Designthesen in zufriedenstellender Weise befolgen?
DR: Ach, Erleuchtungen gibt es ja nur selten. Meine 10 Thesen sind vielmehr die Quintessenz meiner eigenen Entwurfspraxis, kein Manifest, sondern ganz bewusst Thesen die man berücksichtigen und über die man diskutieren kann. Als reflektierter Gestalter habe ich mir immer Gedanken darüber gemacht, was wir Designer eigentlich tun. Wir können sicher nicht die Welt retten, aber wir können dazu beitragen, sie zu einem besseren Ort zu machen. Zu Beginn meiner Tätigkeit war Deutschland von physischer und mentaler Zerstörung durch die Nazizeit geprägt. Mein Fokus lag tatsächlich zunächst darauf aufzuräumen. Ich habe als Kind und Jugendlicher diesen grausamen Krieg mit seinen Zerstörungen und seinem Chaos erlebt, was mich bis heute zu einem bekennenden Pazifisten gemacht hat. Meine 10 Thesen waren zunächst ein unternehmensinternes Projekt bei Braun, um unsere Designhaltung zu definieren. Ich habe sie im Laufe der Jahre von sechs auf zehn erweitert, da mir schon früh auch das Thema Umweltverträglichkeit wichtig war. Wer lesen konnte, der kannte ja die Warnungen des Club of Rome seit etwa 1970. Ein langer Produktzyklus ist da meiner Meinung nach ein probates Mittel, um einen sinnlosen und schnellen Überkonsum einzuschränken. Produkte sollten aber nicht nur technisch lange halten und reparierbar sein, sondern auch optisch. Da kann ein gutes Design zuliefern. Zusätzlich zu meinen zehn Thesen sollte man auch meine Erläuterungen lesen. Viele Gestalter haben sich fraglos auf diese Thesen bezogen. Jony Ive erwähnte sie in vielen Interviews, auch Jasper Morrison und Naoto Fukasawa. Sie haben sich die Braun-Produkte genau angesehen und daraus gelernt und ihre eigene Haltung entwickelt. Das waren keine einfachen Übernahmen von Gestaltungen, sondern intelligente Weiterentwicklungen. Auch meine Studentinnen und Studenten in Hamburg waren dafür empfänglich und ich denke gerade heute gibt es dafür wieder besonderes Interesse. Ich freue mich da immer über neue Ansätze. Andererseits lese ich in den Medien auch noch Texte, die Gestaltung als Sandkastenspiele betreiben. Dass eine ehemals seriöse Designzeitschrift wie die „form“ Antithesen unter dem Titel „Grillt den Rams“ veröffentlicht und ein dysfunktionales Design propagiert, das im Gebrauch widerständig sein soll, finde ich schon etwas geschmacklos und für einen Diskurs über Zukünftiges wenig förderlich.
HUO: Sie haben beschrieben, dass Sie gegenüber den verschiedenen CEOs von Braun oft widersprüchliche Ansichten hatten, was die Gestaltung von Produkten nach Ihren Grundsätzen im Gegensatz zu deren profitorientiertem Ansatz angeht. Streitpunkte waren z. B. die Anbringung großer Logos auf den Produkten oder die Notwendigkeit, Produkte neu zu gestalten, nur um neuen Marketingzielen gerecht zu werden. Wie sind Sie mit diesen widersprüchlichen Wertvorstellungen umgegangen?
DR: Zu meiner Zeit als Designchef bei Braun galt die Devise, dass eine neue Gestaltung nur dann stattfinden sollte, wenn es auch wirklich eine neue Technik und Funktionalität gibt. Die Küchenmaschine KM 3 ist in der Form über Jahrzehnte fast unverändert hergestellt worden. Die Zitruspresse, die ich zusammen mit Jürgen Greubel entworfen habe, wird bis heute von De‘Longhi hergestellt und feiert in diesem Jahr ihr 50. Jubiläum. Das galt etwa auch für Blitzlichtgeräte. So sollten Besitzer von älteren Geräten nicht motiviert werden, vorzeitig ein neues Modell zu kaufen. Denn ihres sah ja genauso aus wie die neuen, die vielleicht etwas leistungsfähiger waren. Das war eine genau entgegengesetzte Haltung, wie es das amerikanische Marketing praktizierte, wo man fast jährlich ein neues Automodell auf den Markt brachte, das sich aber technisch kaum vom Vorgänger unterschied. In den 90er Jahren hat das amerikanische Marketing des Mutterunternehmens Oberhand gewonnen, das auf immer neue Designs drängte. Auch verstand ich die Verwendung des Braun Logos stets als möglichst dezent. Schon in den frühen Taschenradios habe ich es mehrfach verkleinert. Das Logo ist so gut, dass es einem nicht entgegenschreien muss „ich bin Braun“. Und ein kleines Logo wirkt sehr viel eindrucksvoller als ein großes. Auf meinen Stereoanlagen aus den 60er bis 80er Jahren finden sie es nur sehr dezent. Als Braun identifiziert hat man die Geräte schon allein durch ihre äußere Gestaltung. Das hat selbstverständlich manche hitzigen Diskussionen mit dem Marketing und in den 90er Jahren mit der amerikanischen Geschäftsleitung erfordert. Ich konnte für Produkte auch in dieser Hinsicht nur die alte Erkenntnis von Peter Behrens empfehlen „Less is more“.
HUO: Sie haben sehr ausführlich über die ethische Verantwortung des Designers gesprochen, insbesondere im Hinblick auf die Umwelt. Ihre Arbeit wird als eine Blaupause für Nachhaltigkeit im Design beschrieben, und zwei Ihrer Grundprinzipien lauten „weniger, aber besser“ und „gutes Design ist langlebig“. Im Laufe der Zeit scheinen sich diese Prinzipien immer mehr von den Wertvorstellungen des Kapitalismus und der Konsumkultur zu entfernen. Was ist die Rolle des Designs in der heutigen Konsumkultur? Was sind die effektivsten Dinge, die ein Designer tun kann, um ethisches Design zu produzieren?
DR: In meinem Statement, das zu meinem 90. Geburtstag veröffentlicht wurde, sage ich “Wir müssen uns auf weniger Dinge, aber im Spezifischen auf brauchbarere, nützlichere, umweltschonendere, universellere und dabei auch faszinierende einlassen. In meiner Auffassung ist das der Schlüssel, wenn wir einen gedankenlosen Konsum in einen verantwortungsvollen Konsum verändern wollen. Attraktion muss sich auf neue überzeugende Konzepte und Funktionen beziehen, nicht auf das schöne Aussehen eines Designs für überflüssige Kaufanreize. Ein ethisch vertretbares Design muss selbstverständlich auch in den Köpfen der Unternehmensleitungen vorhanden sein. Denn der Gestalter entscheidet ja nicht alleine, was produziert wird. Studierende der Betriebswirtschaft lernen viel über Marketing, aber ihnen werden nicht die Eigenschaften guten Designs beigebracht. Das heißt, die Unternehmensziele sollten neben Profit und Wachstum auch nach der Sinnhaftigkeit ihrer Produkte fragen. Design sollte eigentlich zum Pflichtfach für Ökonomen werden.
HUO: Unseren Systemen, unserer Politik und unserer Populärkultur mangelt es an langfristigem Denken, was durch die Kurzlebigkeit der digitalen Kultur und der sozialen Medien noch verstärkt wird. Was denken Sie über unser heutiges Verhältnis zur Zukunft im Vergleich zu der Zeit, in der Sie aufgewachsen sind? Sie haben auch gesagt: „Es gibt keine Zukunft mit so vielen überflüssigen Dingen“ – wie sollten wir das Design für die Zukunft angehen?
DR: Zunächst einmal bin ich nicht der Meinung, dass früher alles besser war, wie das ältere Menschen gerne vortragen. Den Spruch gab es so ähnlich ja schon bei Aristoteles in der Antike. Für meine Generation gab es zunächst nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, denn die jüngste Vergangenheit hatte mit Krieg und Nationalsozialismus ein Desaster hinterlassen. Es ging um ein Aufräumen nicht nur im physischen Sinn, sondern auch im mentalen. Eine bessere, nicht repräsentative, nicht sentimental verschnörkelte Gestaltung haben wir als Erleichterung, als Befreiung vom Ballast der Vergangenheit begriffen. Die sechziger Jahre waren dann ein gigantischer Umbruch und Aufbruch. Es war allerdings auch der Beginn eines immer größeren Konsums. Unsere Reaktion dazu war, vernünftige und langlebige Produkten mit Sachlichkeit zu gestalten. Die heutige Zeit macht mir allerdings große Sorgen. Die Klimakatastrophe ist nicht mehr zu leugnen, dennoch werden die Autos größer, konsumiert wird nicht weniger, sondern immer mehr. Putin führt einen blutigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, die USA und China sind von wirtschaftlicher Kooperation zu politischer Konfrontation übergegangen. Ich bin da manchmal sehr zukunftsskeptisch.
HUO: Nutzen Sie das Internet und / oder soziale Medien? Was denken Sie über digitale Kultur und Design?
DR: Ich nutze weder das eine noch das andere. Mir ist das alles sehr suspekt und ich will nicht stundenlang vor dem Computer sitzen. Ich schneide lieber meine Bonsais im Garten und mach mir meine Gedanken. Dazu gehören auch intensive Buch- und Zeitungslektüren. Die alten Medien funktionieren meiner Meinung nach noch recht gut, wenn nicht in mancher Hinsicht sogar besser. Digitalität spielt heute aber sicher eine große Rolle. Modelle lassen sich viel schneller herstellen als früher. Aber schnelle Renderings verleiten auch zu wenig durchdachten Gestaltungen, weil alles auf den ersten Blick so schön aussieht. Gestalter sollten immer erst darüber nachdenken, ob ihre Entwürfe wirklich einen Fortschritt bedeuten. Design beginnt im Kopf, nicht am Computer. Und erste Ideen mit der Hand aufs Papier zu bringen, ist meiner Meinung nach immer noch ein veritables Verfahren.
August 2022
Erstveröffentlichung in Capsule Magazin, Mailand, April 2023
HUO: Sie und Ihre Frau Ingeborg haben die Dieter und Ingeborg Rams Stiftung im Jahr 1992 gegründet, um verantwortungsvolles Design für die neue Generation zu fördern. Die Stiftung arbeitet auch mit dem Frankfurter Museum für Angewandte Kunst zusammen, wo Sie ein Archiv Ihres persönlichen Vorlasses aufbauen. Können Sie mir mehr über die archivalische Seite der Stiftung erzählen?
DR: Die Idee zu einem wissenschaftlichen Archiv entstand im Zusammenhang mit den Recherchen zur Ausstellung „Less and more“ von 2008 in Japan durch den Ausstellungskurator Klaus Klemp, der damals auch Ausstellungs- und Sammlungskurator für Design im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt war und das Archiv bis heute leitet. 2009 wurde eine Kooperation mit dem Museum geschlossen, das entsprechende Räumlichkeiten zur Verfügung stellt, Eigentümerin des Archivs ist aber nach wie vor die Stiftung. Es besteht aus Texten, Reden, Interviews, Korrespondenzen, Filmen und Fotografien. Sie wurde dann systematisch aus meinem Vorlass und weiteren Quellen erweitert. Heute verfügt das Archiv über zwei Mitarbeiterinnen die damit beschäftigt sind, die über 7.000 Fotografien zu digitalisieren und zahlreiche Akten zu ordnen, systematisieren und zu verschlagworten. Da sich dort auch Quellen zum Entwurfsprozess, zu Umsetzungsstrategien im Unternehmen, zur Rezeption und zu zeitgenössischen Designdiskussionen finden, geht es nicht nur um meine eigene Arbeit, sondern es gibt auch einen Einblick in größere Zusammenhänge. Ein Zugang für die Fachöffentlichkeit besteht zurzeit nur begrenzt, soll aber zukünftig erweitert möglich sein. Auch ein Internetauftritt ist in Arbeit. Fertig wird solch ein Archiv ja nie, aber wir nähern uns dem Punkt, wo es für Besucher wirklich nutzbar wird. Das Frankfurter Museum verfügt über eine umfangreiche Dauerleihgabe von Produkten der Firma Braun, die auch ca. 700 Entwurfs- und Präsentationsmodelle beinhaltet. Das ist eine ideale Ergänzung zum Archiv und für eine zukünftige Forschungstätigkeit ideal. Gerade wurden in einer Kampagne alle Modelle restauratorisch gesichert. Schließlich zeigt das Museum in einem Dauerausstellungsbereich auch meine Arbeiten, die jährlich aus dem Depotbestand heraus thematisch neu präsentiert werden. Das Archiv ist an einem guten Ort mit einer sehr schönen Architektur von Richard Meier, die ich sehr bewundere.
HUO: Ich habe gehört, dass Sie die Stiftung kürzlich umstrukturiert haben und dass es jetzt ein neues Kuratorium gibt, dem auch der Architekt Till Schneider angehört. Können Sie mir etwas über diese Umstrukturierung der Stiftung erzählen und wer sonst noch daran beteiligt ist?
DR: Es hat lange gedauert, das Stiftungskapital aufzubauen. Anfang dieses Jahres haben meine Frau und ich uns aber entschlossen, einen großen Teil unseres Privatvermögens auf die Stiftung zu übertragen, um sie zu professionalisieren und handlungsfähiger zu machen. Dazu gibt es nun mit Klaus Klemp einen geschäftsführenden Vorstand und ein Kuratorium, das sich aus weiteren Personen bilden wird. Einer der Kuratoriumsmitglieder ist der Frankfurter Architekt Till Schneider. Weitere Mitglieder werde ich berufen. Zusammen werden wir in den kommenden Monaten die langfristige Ausrichtung und mögliche neue Handlungsfelder diskutieren. Sicher werden die Inhalte meiner zehn Thesen zum Design dabei eine Rolle spielen. Leider ist meine Frau im Mai dieses Jahres verstorben, sodass sie die erneuerte Stiftung nicht mehr erlebt hat. Die Stiftung hat schon im vergangenen Jahr eine Wanderausstellung mit dem Titel „Dieter Rams. Ein Blick zurück und voraus“ organisiert, die anhand meiner Arbeiten ein Beispiel aufzeigt, was langlebiges Design sein kann. Sicher ist das historisch, aber es soll vor allem jungen Leuten Prinzipien dieser Gestaltung aufzeigen und zum Weiterdenken anregen. Nach dem Start hier in Frankfurt, war die Ausstellung an zwei Orten in den USA und wir bemühen uns um weitere Ausstellungsorte weltweit.
HUO: Sie haben gesagt, wenn Sie in der Zeit zurückgehen, würden Sie nicht denselben Beruf wählen. Sie haben auch gesagt, dass Sie stattdessen Landschaftsarchitekt werden würden. Können Sie dazu etwas sagen?
DR: Ich wäre Landschaftsarchitekt oder Städteplaner. Die Probleme der Welt sind heute so groß, dass es nicht mehr nur um die Dingwelten des persönlichen Bedarfs geht. Um die geht es allerdings nach wie vor, das will ich hier nicht in Abrede stellen. Bedenken Sie nur die weltweite Vermüllung, die durch ein gedankenloses Produktdesign entsteht. Aber wenn ich jetzt jung wäre und einen Beruf wählen könnte, dann würden mich vor allem die Megastrukturen interessieren. Das wäre ein weites Forschungs- und Gestaltungsfeld.
HUO: Sie haben gesagt: „Wir brauchen neue Landschaften, zusammen mit neuen Städten. Wir brauchen neue Strukturen für unsere Verhaltensweisen“. Sie haben auch gesagt, dass „die unspektakulären Dinge, die wichtigsten Dinge sind, besonders in der Zukunft“. Können Sie mir einige Beispiele für diese neuen Strukturen, Städte, Systeme und unspektakulären Dinge nennen, die es zu gestalten gilt? Wie würden Sie sie angehen?
DR: Sie können nicht erwarten, dass ich schon einen Masterplan für die materielle Gestaltung einer besseren Welt hätte. Den habe ich nicht und es wäre auch vermessen, so etwas zu behaupten. Aber ich denke, dass sich manche Prinzipien meiner Gestaltungshaltung auch auf größere Systeme übertragen ließen: ein sorgsamer Umgang mit Ressourcen, Gebrauchbarkeit, Verständlichkeit, Unaufdringlichkeit, Langlebigkeit, Detailgenauigkeit, Ästhetik (oder darf ich Schönheit sagen?) und nicht zuletzt so wenig unnötige Gestaltung wie möglich.
HUO: Sie haben von der Neugestaltung von Systemen seit dem Beginn Ihrer Laufbahn gesprochen, wahrscheinlich am ikonischsten bei Ihrem 606 Universal Shelving System für Vitsœ. Sie haben gesagt: „Ein System ist besser als ein einzelnes Element“ und dass „gutes Design die Gesamtkonfiguration eines Produkts ist“ – Sie betrachten Design eher als eine „Gestalttechnik“. Können Sie mir mehr über Ihre Herangehensweise an Design als Konstruktion von Systemen erzählen?
DR: Modularität ist nach wie vor ein aktuelles Thema. Mein Regal lässt sich immer neuen Raumsituationen anpassen und mit neuen Modulen ergänzen. Das System ist mit allen Vorgängerelementen kompatibel. Da müssen Sie nichts entsorgen, wenn Sie umziehen. Module waren Teil der griechischen Antike sowie Teil der Plattenbauten des 20. Jahrhunderts. Letztere waren allerdings meist schlecht gemacht, vielleicht mit Ausnahme der Siedlungen des Neuen Frankfurt in den 1920er Jahren. Da stimmen die Proportionen und die Details. Aneinandergereihte Module sollen eine stimmige, harmonische Gesamtform ergeben. Wenn Sie zwei Sessel aus meinem System 620 zusammenschrauben, dann sieht es aus wie ein Sofa, nicht wie zwei zusammengeschraubte Einzelsessel, obwohl sie das ja sind.
HUO: Sie haben darüber gesprochen, dass Sie der Meinung sind, dass Design nicht als Kunst betrachtet werden sollte – Sie sagen, dass Design Produkte nicht einfach dekorieren darf, um sie schön zu machen. Aber wie wir bereits besprochen haben, muss die Ästhetik für Sie der Funktion und dem System folgen. Dann frage ich mich, was Sie von der Kunst halten. Mögen Sie Kunst? Gibt es Kunstwerke, die Sie für besser halten als andere? Sollte die Kunst ähnlichen Prinzipien folgen wie Ihre Designthesen?
DR: Kunst hat ihre eigenen Prinzipien und die sind sicher sehr vielfältig. Fraglos mag ich Bildende Kunst als Kunst, aber nicht als verkunstetes Design. Mir ist eine konzentrierte Kunst, in die man sich lange hineinsieht, lieber als eine überwältigende. Im Barock hätte ich mich nicht sehr wohl gefühlt. Wie Sie wissen, war die Postmoderne auch nicht mein Ding, obwohl ich Vertreter wie Ettore Sottsass menschlich sehr geschätzt habe. In allen Zeiten und Stilen hat es gute und weniger gute Hervorbringungen gegeben. Mich hat immer die jeweilige gestalterische Qualität interessiert. Im Barock und selbst im architektonischen Historismus des späten 19. Jahrhunderts. Die Alte Oper in Frankfurt hat durchaus gestalterische Prägnanz. Heutige Industrieprodukte zum langfristigen Gebrauch sollte man aber nicht durch Ornamentik aufhübschen. Das sieht man sich schnell leid. Und dann wird es eben entsorgt.
HUO: Sie haben gesagt, dass Sie das Wort Design hassen und sich lieber als Architekt denn als Designer bezeichnen würden. Können Sie etwas zu dieser Unterscheidung sagen?
DR: Ich hasse das Wort Design nicht, aber es ist inflationiert, vom Naildesign bis zum Jeansdesign. Ich fände das Wort Gestaltung angemessener, auch international.
HUO: In einem Vortrag wurden Sie einmal von einem Zuhörer gefragt, welchen Rat Sie einem jungen Designer geben würden. Ihr Ratschlag lautete: „Suchen Sie sich die richtigen Leute, mit denen Sie zusammenarbeiten können, Leute, die über das hinausdenken, wofür sie in ihrer tagtäglichen Arbeit verantwortlich sind und die darüber nachdenken, wie unsere Gesellschaft in Zukunft aussehen wird“. Können Sie diesen großartigen Ratschlag näher erläutern?
DR: Der sagt eigentlich schon alles. Designer sind keine unabhängigen Künstler. Gestalter müssen vor allem team- und sprechfähig sein, mit Kollegen, mit Unternehmern und auch mit den Marketingspezialisten. Niemand entwirft überzeugende Lösungen zum Industriedesign allein. Und man sollte mit offenen Augen durch die Welt gehen.
HUO: Sie haben erwähnt, dass Sie gerne eine Karriere als Landschaftsarchitekt gemacht hätten. Haben Sie noch andere unrealisierte Projekte, sei es im Bereich Design oder anderweitig?
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